Nichts als die Wahrheit by Anne Chaplet

Nichts als die Wahrheit by Anne Chaplet

Autor:Anne Chaplet [Chaplet, Anne]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
veröffentlicht: 2011-01-10T23:00:00+00:00


10

Frankfurt – Berlin

Der Flug von Frankfurt nach Berlin war ausgebucht, obwohl es Sonntag morgen war. Karen war zu spät am Flughafen eingetroffen, hatte sich den Mißmut des Personals eingehandelt und mußte sich mit einem Platz in der Mitte bescheiden, Backe an Backe mit einem Mann von Iwan-Rebroff-Statur rechts und einer dynamischen Kostümträgerin links, die nach kaltem Zigarettenrauch roch. Beide schlossen während des Abhebemanövers die Augen und krallten die Hände um die Armlehnen. Es mußte weit mehr Menschen geben, die Angst vorm Fliegen hatten, als man glaubte.

Karen hingegen liebte den Moment, in dem die Motoren auf Vollast gingen, den Augenblick, in dem die schwere Maschine sich vom Boden löste – was der einzige Grund war, warum sie normalerweise einen Fensterplatz dem Platz am Gang vorzog, obwohl das den Nachteil hatte, daß man länger brauchte, bis man aus der Sardinendose endlich rauskam.

Sie fühlte sich leicht und beschwingt – so euphorisch wie lange nicht mehr. Es mußte daran liegen, daß sie wenigstens für ein paar Tage erlöst war vom Trott und sich auf dem Weg in eine Stadt befand, in der Aufbruch herrschte und nicht das langweilige business as usual. Frankfurt, dachte sie manchmal, war nur in Bewegung, wenn morgens die Pendler hinein- und abends wieder herausströmten. Sie lehnte sich zurück und versuchte einen letzten Blick auf sonnenerleuchtete Äcker und Wälder zu erwischen. Das Leben war endlich wieder aufregend.

Das einzige, was ihr Wohlgefühl störte, war der Gedanke an den Fall Bunge – aber den konnte sie getrost bis morgen verdrängen, am Sonntag war sowieso niemand in der Redaktion des »Journal«.

Kaum war der Airbus in Tegel gelandet, sprang der Schwergewichtige neben ihr hellwach auf und versäumte nicht, ihr sein ausladendes Gepäckstück auf die Hand zu stellen, bevor er sich in die Schlange der Wartenden im Gang drängelte. Die Frau im Kostüm machte ihr Mobiltelefon wieder an und kramte in der Handtasche nach der Zigarettenschachtel. Karen hob ihre vom schweren Reisesack des Dicken zusammengequetschte Tasche aus der Gepäckablage und atmete auf, als sie endlich das Flugzeug verlassen konnte.

Die schlechte Luft im Flughafen war erfüllt von Lautsprecheransagen und Babygeschrei. Die Eltern unter den Berlinern schienen just heute massenhaft ihren Urlaub anzutreten. Sie floh an die frische Luft und ins nächste Taxi. Im Fond lehnte sie sich in die Polster und ließ Bäume und Hausboote am Hohenzollernkanal und die hochherrschaftlichen Mietshäuser an der Spree an sich vorbeitragen.

Am Tagungsort angekommen, platzte sie in die erste Kaffeepause des Vormittags hinein. Sie hätte den kahlköpfigen Hünen nicht wiedererkannt, wenn er nicht zielstrebig auf sie zugekommen wäre.

Der Mann, der trotz seines bulligen Körpers leichtfüßig wirkte, grinste ihr ins wahrscheinlich ziemlich verwirrte Gesicht. »Karen! Karen Stark! Erzähl mir nicht, daß du dich nicht mehr an mich erinnerst!«

Sie schüttelte matt den Kopf und hoffte auf baldige Aufklärung.

»Frankfurt, Hörsaal IV, Vorlesung von Buddeberg über ›Grundlagen der Rechtsphilosophie‹ – du hast gegähnt, ich hab’ gegähnt, und dann sind wir beide rausgegangen und für den Rest des Tages an den Baggersee gefahren.« Der Hüne verbeugte sich elegant.

»Frank Sonnemann, damals viertes Semester Soziologie, heute Berliner Redaktionsleiter des ›Journal‹.



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